Als der Graf-Waldersee-Marsch verloren gegangen war

Erinnerung von Heinz Brenner

Als sich die Zeiten nach dem Zweiten Weltkrieg normalisierten und insbesondere 1948 nach der Währungsreform die Lebensumstände erleichtert wurden, hat mein Vater, Richard Brenner, in weiser Voraussicht und in der festen Überzeugung, dass in Ahrweiler auch bald wieder Blasmusik gebraucht wird, bei seinen Musikfreunden nach alten Marschmusik-Noten nachgeforscht. Er hat viele Einzelblätter und zerfledderte Notenhefte ausgeliehen und damit begonnen, 14 neue Notenhefte anzulegen und mit Marschmusik-Noten zu füllen.

 

Es war von jeher üblich, Marschmusik in kleine Notenhefte handschriftlich zu übertragen. Die Hefte hatten etwa Postkartengröße, damit sie auf die kleinen Notenhalter der Blasinstrumente passten. Je ein Marsch musste auf eine Seite passen, weil beim Marschieren nicht umgeblättert werden kann. Zum Schreiben wurde wasserfeste Tusche verwendet, weil die Noten auch mal einem Regenguss ausgesetzt waren. Wenn auf einer Seite unterhalb eines Marsches noch Platz war, wurden hier die Noten eines Chorals eingeschrieben, denn Choräle werden, wie jeder weiß, bei der Ahrweiler Blasmusik beim Schützenfest ebenfalls gebraucht.

 

Für den Anfang wurden 25 Märsche eingeschrieben, das waren bei 14 Notenheften 350 Seiten, eine Arbeit für viele Winterabende, und ich habe beim Schreiben fleißig geholfen. Das waren alles Märsche, die auch heute noch oft in Ahrweiler zu hören sind, wie Torgauer-Marsch, Alte Kameraden, Preußens Gloria, Petersburger Marsch (Parademarsch), Präsentier-Marsch, Kaiser-Wilhelm-Marsch, Jäger aus Kurpfalz, Wem Gott will rechte Gunst erweisen, Defilier-Marsch, Coburger Josias-Marsch und noch viele mehr. Und der Augen-links-Marsch, das war der Lieblingsmarsch von Pastor Josef Rausch, der zu seiner Freude immer gespielt wurde, wenn die Blasmusik am Pfarrhaus vorbeizog. Und der Hönninger Marsch, der nur bei uns und sonst nirgendwo gespielt wird. Er entstand etwa 1925, als sich die Blasmusiker noch Feuerwehrkapelle Ahrweiler nannten. Er wurde aus Teilen von zwei verschiedenen Märschen zusammengesetzt, und nach seiner Uraufführung bei einem Festzug in Bad Hönningen erhielt er den Namen Hönninger Marsch. Nur die Noten vom Graf-Waldersee-Marsch blieben verschollen.

 

Wie anfangs schon erwähnt, begannen sich die Zeiten wieder zu normalisieren. Die St.-Laurentius-Junggesellenschützen verhandelten mit dem französischen Stadtkommandanten Paul Begel und erhielten die Erlaubnis, am Dreifaltigkeitssonntag 1949 den Vogel mit der Armbrust zu schießen. Sie bestellten die Blasmusik für das erste Schützenfest nach dem Krieg und sie handelten den Preis für die Musik mit meinem Vater und Hännes Coßmann aus Bad Neuenahr aus.

 

Jetzt wurde es ernst mit dem Graf-Waldersee-Marsch. Die Suche nach den Noten wurde bis nach Remagen, Linz und Muffendorf auf alle Musiker ausgedehnt, die jemals vor dem Krieg in Ahrweiler ausgeholfen hatten. Aber die Suche blieb ohne Erfolg. Selbst der Musik-Verlag Braun-Piretti in Bonn bemühte sich vergeblich, die Noten zu beschaffen.

 

Es ist undenkbar, in Ahrweiler am Dreifaltigkeitssonntag beim Einzug der neuen Schützenkönige durch das Ahrtor irgendeinen anderen Marsch zu spielen. Und welcher Marsch sollte am Fronleichnamstag gespielt werden, wenn die Schützen die Prozession anführen und durch die Ahrhutstraße zur Stadt hinaus ziehen?

 

Da hat sich mein Vater hingesetzt und die Noten des Graf-Waldersee-Marsches aus dem Gedächtnis in die Marschmusikhefte hineingeschrieben. Angefangen hat er mit seiner Waldhornstimme, die hatte er früher oft gespielt. Die Stimme für Es-Horn war auch schnell transponiert. Und dann folgten die Stimmen für die Trompeten, Tenorhörner, Posaunen und Tuben. Zuletzt schrieb er die Stimmen für B-Klarinette und Es-Klarinette.

 

Am Dreifaltigkeitssonntag und an Fronleichnam erklang in der Ahrhut-straße der Graf-Waldersee-Marsch wie in alten Zeiten. Weil das Blasen beim Marschieren bei diesem ersten Auftritt der Musiker manchmal noch Schwierigkeiten bereitete, wurde nur bei dem Marschteil marschiert, und der Choral Tochter Zion wurde im Stehen gespielt. Das war kein Problem, denn in der Ahrhutstraße gab es sowieso schon immer einen Stau. Und am Fronleichnamstag klappte dann sogar der Choral Tochter Zion beim Marschieren zu den langsamen Rhythmen von großer Trommel und Becken.

 

Etwa 15 Jahre später konnten die Original-Noten des Graf-Waldersee-Marsches wieder beschafft werden, und er wurde seitdem nach den gedruckten neuen Noten gespielt. Und höre! Es klang genau so wie in den Jahren davor.

 

Die alten Marschmusik-Notenhefte von 1948/49 sind alle noch vorhanden und befinden sich im Notenarchiv der Musikvereinigung Bad Neuenahr-Ahrweiler. 

 

Sehr erfreulich ist, dass die Musikvereinigung diese einmalige alte Marschmusik-Sammlung liebevoll mit neuen haltbaren Kunststoff-Einbänden versehen hat. Im Inneren der Deckel ist folgende Inschrift zu lesen:

 

Allen, die geholfen haben, diese alten Märsche weiter erklingen zu lassen, ein herzliches Dankeschön! Ganz besonders unseren verstorbenen Mitgliedern Richard Brenner, einer der Gründer des Orchstervereins Ahrweiler von 1910, Johannes Coßmann aus Bad Neuenahr und Peter Eller aus Ahrweiler. 

 

Der Vorstand im Jahre 1988. (Anmerkung: Die Aussage „einer der Gründer“ stimmt nicht, aber sein älterer Bruder Peter Brenner war 1910 Unité-Mitglied des Orchestervereins Ahrweiler.)

 

Doch nun wieder zurück zum Graf-Waldersee-Marsch.

 

Der Graf-Waldersee-Marsch ist Marsch und Choral zugleich. Ursprünglich wurde er in Ahrweiler nur zweimal im Jahr gespielt, und zwar der Würde des Anlasses entsprechend, nur am Dreifaltigkeitssonntag, wenn die neuen Schützenkönige am Abend durch das Ahrtor in die Stadt einziehen, und am Fronleichnammorgen, wenn die Schützengesellschaften die Prozession anführen und durch die Ahrhutstraße zur Stadt hinausziehen. Der Brauch — oder ist es eher Unsitte? — mit dem Schlüsselbund zu klingeln, wenn der Graf-Waldersee-Marsch im Festzelt erklingt, ist eine Erfindung der St.-Laurentius-Junggesellenschützen aus den 50er Jahren des vergangenen Jahrhunderts und soll das ununterbrochene Klingeln der Messdiener während der gesamten Fronleichnamsprozession nachahmen.